Virtuelles Zoom-Meeting 22.08.2024 – Die Vorträge
Neues zu entzündlichen Polyneuropathien
Prof. Dr. Dr. Mark Stettner
Der periphere Nerv beginnt am Rückenmark. Die Ausbildung geht bis in Finger und Zehenspitzen. Diese Nerven bilden über fünf Millionen Kilometer wie Kabel verlegt in unserem Körper. Sie sorgen dafür, dass wir fühlen, uns bewegen können, dass wir das Bewusstsein haben. Diese lange Strecke bietet viele Angriffspunkte, ist anfällig für alle möglichen Schädigungen. Deshalb sind auch die Erkrankungen dieses Systems, wie Schlaganfall oder MS häufig. In Mitteleuropa werden circa 10 % im Laufe ihres Lebens an einer Polyneuropathie erkranken.
Die Diagnostik der Polyneuropathie ist wichtig. Dazu gehören eine ganze Reihe Untersuchungen: Strommessung der Nerven, Blutuntersuchungen, Untersuchung des Nervenwassers. Die bildgebenden Verfahren sind Ultraschall der Nerven und Kernspintomographien.
Ich möchte etwas erzählen zu den entzündlichen Polyneuropathien, den Polyneuropathien, bei denen das Immunsystem die eigenen Nerven angreift. Dies ist nicht eine Erkrankung, sondern das sind viele, viele Erkrankungen. Beginnen wir mit der CIDP. C steht für chronisch, eine andauernde Erkrankung, die behandelbar ist, aber ursächlich nicht heilbar. Die Mehrzahl wird im Laufe ihres Lebens an einer chronischen Erkrankung leiden. I steht für inflammatorisch, das heißt entzündlich. Das Immunsystem richtet sich gegen körpereigene Strukturen, in diesem Fall Nervenstrukturen. Die daraus resultierenden Entzündungen schädigen das Nervengewebe. D steht für demyelinisierend. Der Nerv besteht aus dem signalleitenden Axon und einer Isolierung, dem Myelin. P steht für Polyradikuloneuropathie. Der komplette Nerv von der Wurzel Radix bis in die Peripherie ist betroffen. Poly steht für viele.
Drei Therapien sind zugelassen. Cortisol, Immunglobuline und Apharese sind erprobte Therapien mit hoher Evidenz. Die meisten Patienten werden mit Immunglobulinen behandelt. Ein kleiner Anteil in Deutschland behandelt man mit Cortisol. Ein sehr kleiner Anteil wird dauerhaft mit Apharese behandelt.
Welche neuen Substanzen werden gerade in klinischen Studien getestet? Da gibt es die sogenannten Fc-Rezeptor-Antikörper. Ein weiterer Mechanismus, der untersucht wird, beruht auf Antikörpern, die sich gegen das Komplementsystem (Teil des Immunsystems) richten.
Efgartigimod ist der Fc-Rezeptor-Antikörper. Die Produktion der Antikörper ist sehr aufwändig für unseren Körper. Deshalb werden diese nicht wie andere Substanzen des Körpers abgebaut. Das neu entwickelte Medikament führt dazu, dass die Antikörper wieder abgebaut werden. Dadurch wird die Entzündung durch diese Antikörper gebremst. Eine Studie hat gezeigt, dass Patienten, die mit dem Präparat behandelt wurden, besser abgeschnitten haben und das heißt, nicht häufig ein Rückfall hatten, die Aktivität der Erkrankung wie auch ein Voranschreiten der Erkrankung geringer war als in der mit Placebo behandelten Kontrollgruppe. Die positiven Daten führten vor Wochen zur Zulassung von der Regulationsbehörde in den USA. Die europäischen Regulationsbehörden werden in den nächsten Monat entscheiden.
Antikörper, die sich gegen das Komplement richten, werden ebenfalls getestet. Das Komplementsystem ist ein System aus vielen Blutproteinen, die mit anderen Mechanismen der Immunabwehr kooperieren. Dies wird durch den Wirkstoff geblockt. Diese Studie zeigt, dass der Großteil der Patienten eine Verbesserung erfahren wird. sind.
Bei beiden Präparaten besteht große Hoffnung, dass wir weitere Optionen für die Behandlung haben werden.
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Mark Stettner, Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, Oberarzt, Leiter Poliklinik, Professur für Immunologie neuroinfektiologischer Erkrankungen
„Was zu tun ist, wenn das Kribbeln nicht nachlässt?“
Dr. Sillay Azizi
Die Betroffenen nehmen weniger wahr. Kalt und oder warm werden nicht real wahrgenommen. Oder die Wahrnehmung ist gesteigert. Man spürt Kribbeln oder leichte Reize werden als störend schmerzhaft empfunden. Empfindungen können anhalten auch wenn der Reiz vorbei ist. Druck und Engegefühl entsteht.
Für den Behandlungserfolg ist Geduld erforderlich. Präparate müssen mehrere Wochen ausprobiert werden. Schmerztagebücher sind zu führen. Schmerz, Schlaf und Stimmung müssen erfasst werden. Eine Reduktion auf 0 sollte nicht erwartet werden.
Vier Hauptgruppen der Therapeutika:
Calciumkanal- Antikonvulsiva: Pregabalin, Gabapentin
Natriumkanalblocker wie Carbamazepin
Antidepresiva wie Amitriptylin
Opioide
Es gibt keine Hierarchie in der Anwendung dieser Therapeutika. Das Ziel ist immer, mit einem Medikament auszukommen. Manchmal sind Kombination besser. Die Erprobung von Kombinationen bietet viele Möglichkeiten. Es braucht Zeit um die geeignete Therapie zu finden.
Ergänzend sollte man TENS (Transkutane Elektrische Nervenstimulation) erproben. Physio- und Ergotherapie sind immer hilfreich. Psychotherapie kann ebenso helfen.
Wichtig ist der frühzeitige Beginn eine Schmerztherapie. Zähne zusammenbeißen ist nicht hilfreich. Eine Chronifizierung von Schmerzen droht – nicht psychologisieren, sondern hilfreiche Unterstützung.
Dr. Sillay Azizi, Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, Assistenzärztin
Biologische Grundlagen zur Nervenregeneration
Dr. Fabian Szepanowski
Dr. Szepanowski sprach über Regeneration peripherer Nerven. Das zentrale und periphere Nervensystem unterscheiden sich in der zellulären Komposition. Im Zentralnervensystem gibt es eine enorme Komplexität verschiedener Zelltypen mit isolierten Aufgaben. Neuronen, die Signale leiten, Oligodendrozyten, die Schutzhüllen bilden, Mikroglia, die Immunzellen sind, arbeiten wunderbar zusammen – bis zur Verletzung. Im Peripheren Nervensystem sind nur Schwannzellen und Neuronen. Die Schwannzelle ist für die Bildung der Schutzhülle zuständig. Sie ist flexibel und regenerierbar.
Nervenfasern sind in Bünden zusammengefasst und von Schutzhüllen umgeben. Verletzungen folgen immer dem Muster, das Wallersche Degeneration genannt wird.. Nach Durchtrennung eines Axons (Fortsatz einer Nervenzelle) reagiert die Schwannzelle. Diese wird von einer myelinbildenden Zelle in eine Art Entzündungszelle umprogrammiert. Diese hat die Aufgabe, das abgetrennte Teil aufzufressen. Gleichzeitig produziert sie entzündliche Botenstoffe, die zu einer Einwanderung von Immunzellen führen. Gemeinsam wird aufgeräumt. Abgetrenntes beseitigt. Das Axon kann neu aussprießen. Die Schwannzelle wird wieder umprogrammiert zu einer Reparaturzelle, die sich vermehrt. Damit unterstützt sie das Axon beim Regenerieren.
Bei entzündlichen Neuropathien werden wie beschrieben durch den Prozess der Wallerschen Degeneration Schwannzellen umprogrammiert. Gleichzeitig treten Immunzellen in den Nerv ein (Fresszellen) und fressen die Schutzhüllen auf.
Dazu läuft ein Forschungsprojekt, für das Dr. Fabian Szepanowski mit dem kanadischen SPIN Award ausgezeichnet wurde, und das sich auf die sogenannte Lysophosphatidsäure (LPA) konzentriert, einen Lipid-Botenstoff, der von Immunzellen freigesetzt wird und zu einer Schädigung der peripheren Nerven beitragen kann. In dieser Studie wird nun erstmals untersucht, ob LPA bei CIDP-Patient:innen mit der Erkrankungsschwere in Verbindung steht und ob das Ansprechen der Patient:innen auf IVIg mit einer Änderung der LPA-Konzentration korreliert. Darüber hinaus wird die Modulation von LPA als neuer therapeutischer Angriffspunkt in einem translational relevantem Tiermodell untersucht. Somit könnte diese Studie zur Identifizierung von LPA als möglicher Surrogatmarker bei der CIDP beitragen.
Mehr zum Forschungsprojekt:
https://www.uni-due.de/med/meldung.php?id=1615
Dr. rer. nat. Fabian Szepanowski, Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen
Symptom Ataxie bei Polyneuropathien – ein wenig beachtetes Problem
Dr. Friedrich Erdlenbruch
Das wenig beachtete Problem sollte vom Patienten erkannt werden. Es unterscheiden Neurologen zwischen peripherem und zentralen Nervensystem. Polyneuropathien gehören zu den Erkrankungen der peripheren Nerven. Dazu gehört eine Reihe an verschiedenen Nerven, die für Sensibilität zuständig sind, die motorischen und vegetativen Nerven. Je nachdem welche betroffen sind, treten unterschiedlich Symptome auf. Ameisenlaufen, Kribbeln, Taubheitsgefühle und Schmerzen stehen häufig an erster Stelle. Die Gangunsicherheit, was ein Symptom dieser sensiblen Ataxie ist, kommt häufig erst zweitrangig, wird ab und zu gar nicht wahrgenommen.
Ataxie, der Begriff setzt sich aus der Silbe A, für ohne und Taxia für die Ordnung oder die Koordination zusammen. Daraus ergibt sich dann entsprechend, dass die Ataxie eigentlich immer für Störungen der Koordination steht. Im Nervensystem wird die Koordination im Kleinhirn gesteuert. Bei Schädigungen kann eine zelluläre Ataxie folgen. Gangunsicherheit, undeutliche Sprache, Defizite in der Feinmotorik, auch die Augenbewegung ist nicht mehr so flüssig wie bei den gesunden Patientinnen und Patienten. im Gegensatz dazu steht die sensible Ataxie, die bei Polyneuropathie ausgelöst werden kann. Da kommt es zu einer Schädigung der sensorischen Nerven, und das sind die Nerven, die Informationen zum zentralen Nervensystem weiterleiten.
Das Kleinhirn, das für die Koordination zuständig ist, hat eigentlich keine Rückmeldung mehr darüber, wo der Körper steht, wo die Gelenkposition ist. Tagsüber hat man zum Glück noch die Augen und kann das Ganze kompensieren. Aber wenn man die Augen schließt oder in der Dunkelheit fehlt dies. So kommt es zu Stürzen. Diese sensible Ataxie wird häufiger übersehen. Andere Beschwerden stehen bei der Polyneuropathie im Vordergrund. Oft entwickelt sich die Ataxie schleichend. Manchmal stellen Patienten gar keinen Zusammenhang zwischen der Polyneuropathie und der der Ataxie her. Die Folgen können doch erheblich sein. Sturzrisiko, insgesamt eingeschränkte Mobilität, daraus folgt soziale Isolation und geringere Lebensqualität.
Warum ist es wichtig, dass der Patient weiß, dass man eine sensible Ataxie hat? Das ist wichtig, weil der Therapieansatz anders ist. Es ist ganz wichtig, dass die Physiotherapie den Fokus darauf legt, dass man Gleichgewichtstraining macht. Es geht um die Gleichgewichtsschulung, die Gangschule zum Erlernen von kompensatorischen Strategien. Wenn es weit fortgeschritten ist, sind Hilfsmitteltraining, die Beseitigung von Stolperfallen zu Hause und Anpassung des Wohnumfelds angeraten,
Zusammenfassend kann man sagen: Ataxien sind ein häufiges Symptom der Polyneuropathie, aber oft wird es nicht in Verbindung gebracht. Es lohnt sich, dass diese Ataxien beachtet werden, da sie behandelbar sind.
Dr. med. Friedrich Erdlenbruch, Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, Assistenzarzt
Video-Rückblicke auf die Veranstaltung auf https://neurologie.uk-essen.de/