Die Kooperationsberatung für Ärzte und Selbsthilfegruppen (KOSA) in der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg veranstaltete am 29.02.2020 den ersten süddeutschen Fachtag der seltenen Erkrankungen im Haus der Begegnung in Ulm. Trotz der aktuellen Corona-Diskussion in den Medien kamen gefühlt über 100 Teilnehmer zu der Veranstaltung.
Die Einführungsrede hielt Prof. Dr. Klaus-Michael Debatin (Universitätsklinikum Ulm und Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Seltene Erkrankungen ZSE Ulm).
Seiner Aussage zufolge haben seltene Erkrankungen mittlerweile in der Öffentlichkeit eine hohe Sichtbarkeit, wie man an einer kürzlich erschienenen Beilage in der Zeitschrift Stern ablesen kann. Ein Drittel aller Fälle im Universitätsklinikum Ulm im Jahr sind seltene Erkrankungen. Im Jahr bedeutet dies 6000 stationäre und 61.000 ambulante Fälle, die versorgt werden. Da es eine sehr große Anzahl seltener Erkrankungen gibt, ist eine Infrastruktur zur Erforschung und Betreuung der Fälle notwendig, die Deutschland- und Europa-weit vernetzt ist. Daher gibt es das Zentrum für seltene Erkrankungen (ZSE) in Ulm, das als Referenzzentrum (A-Zentrum) gilt. Dieses umfasst Fachzentren (B-Zentren), die spezielle Erkrankungen bearbeiten. Ein B-Zentrum ist beispielsweise das Zentrum für seltene neurologische Erkrankungen (ZSNE) im ZSE. Diese kümmern sich üblicherweise um Spezialsprechstunden, Beratung und psychosoziale Betreuung der Patienten, Aufbau von Sequenzierzentren für humangenetische Diagnostik und die Versorgungsforschung. Ein weiteres spezielles Fachzentrum (B-Zentrum) ist ZSE-DUO, das sich um seltene Krankheiten und psychosomatische Störungen kümmert und dann kontaktiert werden kann, wenn die Diagnose noch nicht klar ist. Ein großes Problem ist die Finanzierung der Infrastruktur, da seltene Krankheit hochkomplex sind und nicht mit einer „5-Minuten-Medizin“ behandelt werden können. Ein weiteres wichtiges Ziel ist es, die Zentren für seltene Erkrankungen unter fachlichen Gesichtspunkten europaweit zu vernetzen.
In dem zweiten Einführungsvortrag von Dr. Holm Grässner, Geschäftsführer ZSE Ulm ging es um die europäische Vernetzung. Seit ca. 3 Jahren gibt es die europäischen Referenznetzwerke (ERN). Diese fokussieren sich auf die Seltenheit von Patienten, Experten, guten Versorgungsstrukturen und Austausch von Forschungsergebnissen über seltene Erkrankungen. Wegen der Seltenheit ist eine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene sinnvoll. Ein europäisches Netzwerk ist z.B. ERN-RND (seltene neurologische Erkrankungen www.ern-rnd.eu) – es umfasst derzeit sechs Erkrankungsgruppen und GBS/CIDP ist leider (noch) nicht enthalten. Das ERN verwendet eine einheitliche Software-Plattform zur Fallbesprechung (Clinical Patient Management System), stellt Webinare (Online Trainings) für Ärzte, diagnostische Flußdiagramme für seltene Erkrankungen und klinische Skalen zur Verfügung. Auch der Aufbau eines Registers mit Minimaldaten der Patienten zur Versorgungsforschung wird angestrebt.
In einem der vier Workshops ging es um die folgende Frage: „Die Waisen der Medizin: Was haben die Zentren für seltene Erkrankungen ZSE für Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessert?“ Hier traten Selbsthilfe-Aktive in den Dialog mit Vertretern und Ärzten des professionellen Hilfesystems. Prof. Dr. Klaus-Michael Debatin vertrat die Ansicht, dass die Ärzte viel stärker mit Selbsthilfegruppen in Austausch kommen müssen, wenn es um seltene Erkrankungen geht. In den Selbsthilfegruppen gibt es oft mehr Wissen über eine bestimmte seltene Erkrankung und deren Facetten; während der Arzt viele seltene Erkrankungen während seiner Tätigkeit sieht und oft nur allgemeines Wissen über eine einzelne seltene Erkrankung hat. Aus Sicht der Selbsthilfegruppen gibt es aber einige Hürden zu überwinden. Ein Thema war der Datenschutz bei Austausch von Patienteninformationen oder auch die Frage, wie ich als Patient ohne lange Wartezeiten einen kompetenten Facharzt oder ein Krankenhaus finde, das für Diagnostik und Therapie meiner seltenen Erkrankung kompetent ist. Oft scheitert eine schnelle Diagnostik und Versorgung schon an der Überweisung. Hier könnte eine enge Zusammenarbeit von Fachzentren (B-Zentren) mit Selbsthilfegruppen hilfreich sein. Herr Prof. Dr. Debatin schloss den Workshop mit einem Plädoyer für die Universitätsmedizin ab, da nur so eine interdisziplinäre Versorgung und Anschluss an Forschung bei seltenen Erkrankungen gewährleistet sei. Die Politik hat die Aufgabe, die Vergütung der Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen ausserhalb der Universitätsmedizin zu überarbeiten.
Es war ein interessanter Tag in Ulm mit vielen neuen Informationen und Eindrücken. Insgesamt waren ca. 15 Selbsthilfegruppen vor Ort. Die GBS CIDP Initiative war mit einem eigenen Stand vertreten, der erfreulicherweise zwischen den Vorträgen und Workshops und zur Mittagszeit gut besucht war.
„Mitgefühl zum Schmerz“