Aktualisierter Kommentar (Stand: 21.04.2020) der Klinischen Kommission „Neuroimmunologie“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zum Thema Immuntherapien bei neuroimmunologischen Erkrankungen vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Pandemie
Die aktuelle Pandemie des neuen Corona-Virus SARS-CoV-2 führt bei Betroffenen mit neurologischen Autoimmunerkrankungen (wie der Multiplen Sklerose, Myasthenia gravis, Autoimmun-Enzephalitis, CIDP, Neuromyelitis optica, Vaskulitis, Sarkoidose, Guillain-Barré-Syndrom), ihren Angehörigen und Behandlern zu Fragen bezüglich der Weiterführung immunsuppressiver oder immunmodulatorischer Medikamente. Dazu gehören Alemtuzumab, Azathioprin, Cladribin, Cyclosporin A, Dimethylfumarat, Eculizumab, Fingolimod, Glatirameracetat, Immunglobuline (IVIG), Infliximab, Interferon-beta, Methotrexat, Mitoxantron, Mycophenolat Mofetil, Ocrelizumab, Prednisolon, Rituximab, Siponimod, Teriflunomid und Tocilizumab.
Unter ständiger Beobachtung der aktuellen Situation ist nach Einschätzung der DGN-Kommission Neuroimmunologie in aller Regel keine grundsätzliche Änderung des jetzigen therapeutischen Vorgehens notwendig, allerdings sind besondere Vorsichtsmaßnahmen sinnvoll.
Die folgenden Fragen stehen dabei im Vordergrund:
- Ist für Patienten mit neurologischen Autoimmunerkrankungen das Risiko erhöht, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren?
Bisher gibt es keine Hinweise, dass Patienten mit einer neurologischen Autoimmunerkrankung – auch mit einer Immuntherapie – ein erhöhtes Risiko haben, sich mit SARS-CoV-2 anzustecken und an COVID-19 (corona virus disease 2019) zu erkranken. Erste Studienergebnisse aus China und Südeuropa unterstützen diese Einschätzung.
- Sollte die Immuntherapie während der Pandemie pausiert werden?
Immuntherapeutische Medikamente sind ein wichtiger Teil der Therapie von Autoimmunerkrankungen und die Unterbrechung der Behandlung kann zu einer deutlichen Verschlechterung führen. Dieses Risiko wird in den meisten Fällen höher eingeschätzt als die Gefahr, eine Erkrankung mit dem neuen Corona-Virus durch die immuntherapeutische Behandlung zu verschlechtern. Das gilt auch für Immuntherapien, die das Risiko für Atemwegserkrankungen erhöhen (z.B. Fingolimod, Siponimod).
- Was ist bei der Gabe der Medikamente zu beachten?
Änderungen der Medikation und die Bewertung des Blutbildes im Rahmen der Kontrolluntersuchungen sollten immer in Rücksprache mit einem auf neuroimmunologische Erkrankungen spezialisierten Zentrum erfolgen. Nur in Ausnahmefällen erscheint bei lang wirksamen Medikamenten (Intervalltherapie) nach individueller Risiko-Nutzen-Abwägung eine gewisse Verschiebung der nächsten Gabe sinnvoll. Besonders wichtig ist, dass für die Infusion einiger Medikamente oder regelmäßige Blutkontrollen die Fahrt in die Klinik/Praxis notwendig und mit erhöhter Ansteckungsgefahr verbunden ist. Ein „prophylaktischer“ Schutz von neuroimmunologischen Patienten vor COVID-19 mittels IVIG ist nicht zu empfehlen.
- Nehmen die so genannten Immunzell-depletierenden Therapien eine Sonderstellung ein?
Wie bisher gilt die Empfehlung, dass im Falle einer akuten Infektion die Behandlung mit Immunzell-depletierenden Therapien (z.B. Alemtuzumab, Ocrelizumab, Rituximab, Cladribin) bis zum Abklingen der Infektsymptome verschoben werden sollte, wenn die Krankheitsaktivität dies erlaubt. Bei einer Neueinstellung auf diese längerfristig depletierenden Substanzen können Alternativen sinnvoll sein, insbesondere bei älteren Patienten und Patienten mit zusätzlichen Herz-Lungen-Erkrankungen, solange das Ende der Pandemie nicht absehbar ist.
- Wann sind Patienten mit neurologischen Autoimmunerkrankungen „Risikopersonen“?
Das Risiko eines komplizierteren COVID-19-Verlaufs erhöht sich möglicherweise bei mehreren gleichzeitig angewandten Immuntherapien, höherem Alter, bei einer Schwäche der Schluck- oder Atemmuskulatur (z.B. bei der Myasthenie), fortgeschrittener beeinträchtigender Erkrankung (z.B. EDSS>6 bei der Multiplen Sklerose) und bei internistischen Begleiterkrankungen. Patienten mit hohem Risiko ist trotz aller damit verbundenen Einschränkungen die Kontaktsperre (self-isolation) als wirksamste Schutzmaßnahme ausdrücklich empfohlen.
- Welche sonstigen Schutzmaßnahmen können ergriffen werden?
Gerade für Patienten mit immunmodulierenden Therapien ist es sinnvoll, in dieser Situation Allgemeinmaßnahmen zum Infektionsschutz vor Erkältungskrankheiten besonders zu berücksichtigen. Dazu gehören:
- eine starke Reduktion sozialer Interaktionen (inkl. Vermeiden von ÖPNV) und ausreichend Abstand zu anderen Personen (social distancing),
- häufiges, gründliches Händewaschen und Händedesinfektion (danach Händepflege), Niesen/Husten in die Ellenbeuge, Vermeidung von Händeschütteln/Umarmungen,
- Verwendung von Mund-Nasen-Schutzmasken bei Kontakt mit anderen Menschen und
- die Möglichkeit von Schutzimpfungen mit Totimpfstoffen, v.a. Grippe (erneut ab Herbst 2020) und Pneumokokken (gemäß Empfehlung der Ständigen Impfkommission des RKI möglichst vor jeder immunsuppressiven Therapie).
Wenn Symptome wie Fieber oder anhaltender Husten auftreten, sollten Betroffene den Hausarzt oder Neurologen anrufen, um über die Notwendigkeit einer Testung auf das Corona-Virus und ggf. weitere Maßnahmen incl. Medikamentenänderungen zu entscheiden.
Weiterführende Links, insbesondere zu einzelnen Patientengruppen (Multiple Sklerose, Myasthenie) und zu allgemeinen Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI)
Informationen des RKI zum neuen Corona-Virus (aktuelle Risikobewertung, häufig gestellte Fragen, Fallzahlen, Schutzmaßnahmen und vieles mehr):
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html
Stellungnahme der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG):
https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-news/dmsg-aktuell/news-article/News/detail/update-empfehlungen-fuer-multiple-sklerose-erkrankte-zum-thema-corona-virus/?no_cache=1&cHash=1f45cc65c79272dae37d6e2827278143
Stellungnahme des Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS):
https://www.kompetenznetz-multiplesklerose.de/coronavirus-sars-cov-2-hinweise-zur-anwendung-von-ms-immuntherapeutika/
Stellungnahme der Deutschen Myasthenie-Gesellschaft (DMG):
Wichtige englischsprachige Empfehlungen für Patienten mit neuroimmunologischen Erkrankungen
ABN Guidance on the use of disease-modifying therapies in multiple sclerosis in response to the threat of a coronavirus epidemic: https://cdn.ymaws.com/www.theabn.org/resource/collection/6750BAE6-4CBC-4DDB-A684-116E03BFE634/ABN_Guidance_on_DMTs_for_MS_and_COVID19_APPROVED_11_March.pdf
National Multiple Sclerosis Society – Disease Modifying Treatment Guidelines for Coronavirus (COVID-19):
https://www.nationalmssociety.org/What-you-need-to-know-about-Coronavirus-(COVID-19)/DMT-Guidelines-for-Coronavirus-(COVID-19)-and
Neurologische Patienten sollten ihre Immuntherapie nicht aus Angst vor dem Coronavirus absetzen!
27. März 2020 – Patienten mit einer neurologischen Autoimmunerkrankung erhalten häufig immunsupprimierende oder immunmodulierende Medikamente, die per se infektanfälliger machen. Aber einen konkreten Hinweis dafür, dass die Immuntherapie das Risiko erhöht, sich mit SARS-CoV-2 (Coronavirus) anzustecken oder an COVID-19 zu erkranken, gibt es derzeit nicht.
Die Kommission Neuroimmunologie der DGN warnt daher Patienten vor einem unbedachten Absetzen der Therapie ohne Rücksprache mit dem Arzt. Ein Behandlungsabbruch könne zu einer deutlichen Verschlechterung der Autoimmunerkrankung führen und das stünde in aller Regel nicht in Relation zu dem Risiko, an COVID-19 zu erkranken.
Viele Patienten mit einer neurologischen Autoimmunerkrankung (wie beispielsweise Multiple Sklerose, Myasthenie, Vaskulitis, Sarkoidose, Autoimmun-Enzephalitis) sind verunsichert. Sie haben Sorge, dass immunsuppressive oder immunmodulierende Medikamente das Risiko einer Coronavirusinfektion erhöhen. Grundsätzlich ist diese Annahme nicht falsch, das Robert Koch-Institut (RKI) [1] zählt Menschen mit unterdrücktem Immunsystem –z.B. durch eine immunsuppressive/-modulierende Therapie – zur Risikogruppe für einen schwereren COVID-19-Krankheitsverlauf.
Doch was ist die Konsequenz? „Das Absetzen der Medikamente wird in der Regel mehr schaden als nutzen, erst recht, wenn sie ohne Rücksprache mit dem behandelnden Arzt erfolgt“, warnt Professor Harald Prüß, Sprecher der Kommission Neuroimmunologie der DGN, die aktuell eine Stellungnahme [2] zu der Thematik veröffentlicht hat. Ein Behandlungsabbruch könne zu einer deutlichen Verschlechterung der Autoimmunerkrankung führen und das stünde in aller Regel nicht in Relation zu dem Risiko, an COVID-19 zu erkranken. Das gelte sogar auch für immunmodulierende Substanzen, beispielsweise Fingolimod oder Siponimod, die allgemein die Anfälligkeit für Lungenerkrankungen erhöhen. „Eine gut eingestellte Immuntherapie, die stabil die Krankheit kontrolliert und ihr Fortschreiten verhindert, sollte nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Zumindest sollte vor einem Therapiewechsel immer eine individuelle Risikoabwägung vorgenommen werden. Vereint der Patient gleich mehrere Corona-Risikofaktoren in sich, ist er beispielsweise sehr alt oder leidet unter anderen Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus oder einer Herzkrankheit, kann eine evtl. Umstellung auf kürzer wirksame und besser steuerbare immunmodulierende Substanzen erwogen werden, aber bei den meisten Patienten ist das medizinisch nicht erforderlich“, so der Experte.
Hinzu komme, dass viele der Medikamente lang wirksam sind und in längeren Abständen verabreicht werden. Die Substanz Natalizumab zur Behandlung der Multiplen Sklerose wird beispielsweise nur alle vier Wochen gegeben, bei anderen Medikamenten sind die Abstände noch länger. „Eine kurzfristige Veränderung ist dann ohnehin kaum möglich.“
Auch das RKI rät Risikopatienten grundsätzlich nicht dazu, ihre Therapie abzubrechen, sondern sich stattdessen bestmöglich vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen. „Für Patienten, die eine Immuntherapie erhalten, ist es noch wichtiger als für alle anderen, die allgemeinen Verhaltensregeln und Hygieneempfehlungen des RKI zu befolgen“, gibt Professor Prüß zu bedenken. Menschen, die mit immunsuppressiven/-modulierenden Medikamenten behandelt werden, sollten also ihre Kontakte zu anderen Menschen auf ein Minimum reduzieren – nur die soziale Isolation schütze letztendlich vor Ansteckung.
Professor Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN, betont zudem, dass es derzeit auch keinerlei Nachweis dafür gebe, dass die Immuntherapie das Risiko erhöht, sich mit SARS-CoV-2 anzustecken oder an COVID-19 zu erkranken. „Natürlich machen wir jetzt erst unsere Erfahrungen mit dem neuartigen Virus, aber hätten immuntherapeutisch behandelte Patienten mit neurologischen Autoimmunerkrankungen ein überproportional erhöhtes COVID-19-Erkrankungsrisiko, hätten wir sicherlich erste Sicherheitssignale aus Wuhan oder Italien erhalten.“
„Die größte Gefahr der Immuntherapie im Hinblick auf eine mögliche Ansteckung mit dem Coronavirus ist wahrscheinlich, dass viele Präparate als intravenöse Infusion in der neurologischen Praxis oder Klinik verabreicht werden, die in diesen Zeiten natürlich alles andere als menschenleer sind. Wir empfehlen daher den Patienten, in der neurologischen Praxis/Klinik und auf dem Weg dahin einen Mundschutz zu tragen, nach Möglichkeit nichts anzufassen bzw. sich in regelmäßigen Abständen die Hände zu desinfizieren. Beratungsgespräche sollten – dem Gebot der Zeit folgend – telefonisch oder per Videosprechstunde durchgeführt werden“, erklärt DGN-Generalsekretär Professor Peter Berlit.
Literatur
[1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html
[2] Immuntherapien bei neuroimmunologischen Erkrankungen vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Pandemie. https://www.dgn.org/neuronews/71-neuronews-2020/3890-immuntherapien-bei-neuroimmunologischen-erkrankungen-vor-dem-hintergrund-der-sars-cov-2-pandemie
Pressekontakt
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Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen