Vom Hinken zum Schwingen – Krankheitsbewältigung bei CIDP oder GBS
Die Schwerpunkte des Gesprächs:
Sich mit den Folgen der Erkrankung arrangieren.
Die Verluste betrauern.
Veränderungen wahrnehmen und so weit wie möglich positiv deuten.
Hier lesen Sie eine Zusammenfassung unseres Treffens:
Frau Dr. med. Ghassemlou kündigt an über die seelischen Hintergründe der Krankheitsbewältigung zu sprechen. Zu Beginn des Gesprächs berichtet sie über ihre persönliche Krankheitserfahrung mit Polio in ihrer Kindheit mit der Folge einer lebenslangen Gehbehinderung.
Krankheitsbewältigung ist ein Bemühen mit den sich aus der Krankheit ergebenden Belastungen zurecht zu kommen und den Verlauf positiv zu beeinflussen. Das geschieht bei jedem anders.
Man kann zwei Bewältigungsstile unterscheiden:
Die aktive Variante sucht nach Information und beschäftigt sich mit der Erkrankung, sucht Hilfe.
Die Vermeidende geht dem aus dem Weg, will sich ablenken, verleugnet (schwankt zwischen Wissen und Nichtwissen).
Die meisten von uns wenden beide Bewältigungsstrategien an, denn wir brauchen viele verschiedene Strategien zur Krankheitsbewältigung. Es ist wichtig, dabei Unterstützung zu bekommen, dies beeinflusst die Verleugnung.
Nach dem akuten Ereignis der Erkrankung kommt es zur Bewertung. Und es stellt sich die Frage, ob ich den Eindruck habe in dieser Situation etwas bewirken zu können. Zur Bewertung und damit zur Verarbeitung brauche ich Zeit. Wenn ich genügend soziale Kontakte habe, meine Gefühle äußern kann, hilft das bei der Bewertung und Bearbeitung der Krankheit. Wenn ich viel Unterstützung habe, reduziert sich die Angst und es kommt weniger zu Verleugnung.
Was ist zu bewältigen?
Was macht die Erkrankung mit mir?
In der akuten Phase, aber auch bei chronisch Betroffenen, kommen die Erfahrungen von Angst, Bedrohung, Schmerzen, Lähmung, Atemnot. Diese bedrohenden Gefühle müssen verarbeitet werden. Der Betroffene erlebt Einschränkung und die damit gesetzten Grenzen.
Der Verlust der körperlichen Fähigkeiten kann zur Veränderung der sozialen Rollen führen, z.B. in der Familie oder am Arbeitsplatz.
Das Erlebnis der Hilflosigkeit und des „Andersseins“ (wie ich gehe, dass ich mich im Rollstuhl bewege), das kann sichtbar oder unsichtbar sein.
Die Erfahrung der Hilfsmittel verändert das Körpergefühl. Wenn z.B. ein Rollstuhl benutzt wird, verändert sich der Blickwinkel, auch eine Orthese verändert das Körpergefühl.
Die Veränderung muss auch seelisch bearbeitet werden. „Jetzt bin ich eine Last. Warum hat mir das Schicksal so böse mitgespielt?“ Man kann wütend werden, sich minderwertig und hässlich fühlen. Und die Angst vor der Zukunft spielt eine wichtige Rolle.
Unbearbeitet können die Gefühle weitere Ängste auslösen, zum Rückzug oder einer Depression führen. Die Behinderung kann emotional dazu führen, dass sie verleugnet wird, die Person sich zurückzieht, nicht auffallen will. Die Verleugnung kann auch dazu führen, dass die eigenen Grenzen überschritten werden. „Ich will nicht so sein wie andere“, man will nicht behindert sein, und man macht mehr als möglich ist und geht weit über die Grenzen der eigenen Fähigkeiten hinaus.
Viele dieser Gefühle wie Angst, Wut, Schmerz, Scham oder Mitgefühl treten auch bei Angehörigen auf. Sie erleben die Rollenveränderung und Überforderung, die man sich nicht wagt, einzugestehen. Dazu kommt auch bei ihnen die Angst vor der Zukunft. Das Verhalten der Angehörigen als Folge der Erkrankung kann sehr unterschiedlich sein: Strenge und Ehrgeiz mit sich selbst, den Betroffenen verwöhnen, oder aggressiv werden, Rücksicht nehmen oder aber auch Bevormundung und dem Betroffenen wenig zutrauen.
Auch die Wirkung unserer Einschränkungen in der Gesellschaft, kann schmerzhaft sein. Wir treffen auf Mitleid, Angst, Übergehen, Berührungsängste, besonders, da in der Gesellschaft behindertes Leben nicht akzeptiert ist und nicht gelernt wurde, mit Behinderung umzugehen. So wird häufig nicht die Person im Rollstuhl angesprochen, sondern ihre Begleitung. Es kann aber auch zur Verleugnung kommen mit dem Satz “Wir sind alle behindert“.
Der Weg zum psychisch gesunden Umgang beginnt damit vor sich selbst die Einschränkung zuzugeben. Wichtig ist, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und anzunehmen. Sich selbst neu annehmen, mit der Behinderung annehmen. Der Blick auf andere Möglichkeiten öffnet sich. Damit entsteht Dankbarkeit, weil die Behinderung nicht mehr so einschränkt. Man kann wahrnehmen was man leisten kann. Und das kann auch von den anderen angenommen werden. Dieser Prozess dauert Jahre.
Was können Angehörige und Freunde tun? Auch hier ist die Wahrnehmung der eigenen Gefühle von zentraler Bedeutung. Am besten ist es offen zu fragen, mit wirklichem Interesse, Dinge direkt ansprechen. Nicht schonen aus Mitleid, sondern aufeinander aufpassen, ernst nehmen, den anderen auch herausfordern.
Folgende Punkte wurden im anschließenden Gespräch angesprochen:
„Ich erlebe im Gespräch mit neu Diagnostizierten oft die Frage warum habe ich das oder woran kann es denn gelegen haben, habe ich was falsch gemacht.“ Oder eine nervige Frage, die mir begegnet „was hast du denn gemacht“, weil ich ihm jetzt im Rollstuhl entgegenkomme.
Dr. Ghassemlou beschreibt dazu, jeder hat eine eigene Vorstellung warum er/sie erkrankt ist. Dies braucht keine medizinische Erklärung, aber ein Gefühl für eine vielleicht zu klärende Situation, oder Belastungen.
Ein Teilnehmer wirft ein: „Ich antworte auf solche Fragen – was ich denn habe – oft, ich habe in der Lotterie gewonnen, das bekommen nur ein oder zwei von 100.000“. Er arrangiert sich seit 25 Jahren mit der Erkrankung. Dr. Ghassemlou fragt was er denn durch die Erkrankung gewonnen habe. Antwort, die Erfahrung Freunde und Familie zu haben die ihn super unterstützt haben. Eine wunderbare Erfahrung wie Freunde hinter einem stehen. Und er habe gelernt damit zu leben.
Die Schuldfrage beschäftigte lange eine andere Teilnehmerin. Lange fragte sie sich „was habe ich falsch gemacht? War es Stress oder die falsche Ernährung“. Sie beschreibt, dass diese Suche sie immer tiefer in eine Grube brachte. Das war sehr schwierig. Erst seit sie damit abgeschlossen habe, wurde es besser. Heute weiß sie, dass sie nicht schuld ist.
Dr. Ghassemlou fordert uns auf „Ich würde statt warum, wozu fragen.“
Ein weiteres Problem sei, dass das völlige Vertrauen in den eigenen Körper fehlt. Die völlige Lähmung wirkt auch drei Jahre danach noch nach. Ein Teilnehmer beschreibt, „Jeder kleine Schritt hilft. Als ich meinen kleinen Zeh wieder bewegen konnte, habe ich mit meiner Pflegerin vor Freude geweint.“ Alle Schritte sind große Schritte. Man solle sie als solche wahrnehmen.
Ein anderes Problem entsteht aus dem Rollenwechsel von Angehörigen und daraus folgenden Differenzen bei der Ausübung von Tätigkeiten. Der Assistent macht es anders als es früher der zu Pflegende getan hat. Eine ausführliche Kommunikation ist für die Abstimmung notwendig. Der hilfsbedürftige Mensch versucht durch die Beschreibung, wie etwas getan werden muss, einen Teil seiner alten Rolle zu erhalten. Darüber muss man reden. Denn dahinter steht Trauer und der Betroffene muss Abschied nehmen von seinen alten Gewohnheiten und sich erlauben, traurig zu sein. Es entsteht eine Kampfsituation, wenn man nicht darüber spricht.
Trauer ist also ein wichtiger Punkt im Prozesse der Krankheitsbewältigung. Eine Teilnehmerin beschreibt solche Abschiede vom Motorrad, vom Fahrrad. Das ist schmerzhaft, denn es bedeutet sich zuzugeben, dass man nie wieder Fahrradfahren wird. Dieser Schmerz muss akzeptiert werden. Eine Verdrängung kann zur Depression werden.
Seelische Zustände können Phasen der Erschöpfung oder der Schmerzen beeinflussen, sie verbessern oder verschlechtern. Belastungen können das Schmerzerleben verstärken
Wir sprachen noch über Abgrenzung von Fatigue und Depression und machten auf die Möglichkeit der Unterstützung durch Psychotherapeuten aufmerksam.
Hilfreich wäre das Gespräch mit Psychotherapeuten, die Erfahrungen zum Feld Krankheitsbewältigung haben.
Wir danken Frau Dr. Ghassemlou für Ihre Zeit und Offenheit.
Dr. Nesmil Ghassemlou, ist Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Psychoonkologin und Palliativmedizinerin, Leiterin der Süddeutschen Akademie für Psychotherapie.
2020 erschien ihr Buch Seelensang. Geschichten vom Leben und Sterben
Wenn der eigene Tod plötzlich konkret wird, fühlen wir uns verloren. Als Palliativmedizinerin und Psychoonkologin beobachtet die Autorin oft, dass viele Menschen nach einer Krebsdiagnose mit ihrer Angst alleine sind. Anhand von bewegenden Geschichten zeigt sie, wie Ärzte, Pflegende und Mitarbeiter im Hospiz Kranken nicht nur diagnostisch und therapeutisch beistehen, sondern auch seelische Sterbebegleitung leisten können. Sie lässt den Leser an Gesprächen teilnehmen, erklärt Gesprächstechniken und zeigt, wie Patienten inneren Frieden und eine Aussöhnung mit sich selbst finden können. Ein Buch für Menschen in medizinischen und pflegerischen Berufen und für alle, die sich mit dem eigenen Tod oder dem Verlust einer geliebten Person auseinandersetzen.