Mein Schmerz ist nicht dein Schmerz.

Auch bei CIDP ist der Schmerz nicht bei allen gleich, stellte Prof. Dr. Enax-Krumova zu Beginn unseres Onlinetreffens fest. Die Professorin für neuronale Regenerationsforschung stellte anhand von verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen dar, wie die Wahrnehmung der Schmerzen funktioniert und warum wir uns in unserer Schmerzempfindlichkeit unterscheiden.

Schmerz ist eine wichtige Warnungs- und Schutzfunktion unseres Körpers. Eine Verletzung des Gewebes führt zu Schmerzempfinden und das zu einer koordinierten Abwehr. Wenn wir zu lange in der Sonne gelegen haben,  kommt es in Folge des Sonnenbrandes zu einer Entzündungsreaktion in der Haut, wir bewerten das unbewusst und passen unser Verhalten an.

Es gibt verschiedene Schmerzformen. Bei Gewebsverletzung wie zum Beispiel bei Rheuma oder auch bei dem Knochenbruch haben Schmerzen die Schutzfunktion, dass man das Gewebe ruhigstellt, oder bestimmte Belastungen nicht durchführt. Eine Nervenschädigung, wie der Bandscheibenvorfall, die Bandscheibe drückt auf die Nervenwurzeln, der Nervenschmerz strahlt ins Bein, ist ein neuropathischer Schmerz. Auch bei einer Polyneuropathie ist dies der Mechanismus, der Schmerz entsteht in der die Schmerzen weiterleitenden Struktur, also den Nerven. Vor wenigen Jahren hat man eine weitere Schmerzform, die sogenannten noziplastischen Schmerzen beschrieben. Dabei geht es um eine veränderte Schmerzverarbeitung ohne nachweisbare Gewebs- oder Nervenschädigung.

Die Arten von Schmerz haben unterschiedliche Behandlungsansätze zur Folge.

Nervenschmerzen zeigen ein paar Besonderheiten. Charakteristisch ist, dass in den schmerzhaften Regionen auch häufig eine Taubheit auftritt. Man hat ein pelziges Gefühl und gleichzeitig können die Bereiche trotzdem schmerzhaft, berührungsempfindlich oder auch druckempfindlich sein. Das Gefühl von kleinen Nadelstichen oder Ameisen laufen sind Besonderheiten von Nervenschmerzen. Die Nervenstrukturen, die für die Wahrnehmung verschiedener Reize wie Berührungen oder Temperatur zuständig sind, können auch bei der Schmerzentstehung beteiligt sein. Das heißt, an den Enden der kleinen Nervenfasern an Händen und Füßen, aber auch an den Nervenwurzeln am Rücken oder auch im Rückenmark oder im Gehirn kann der Schmerz entstehen.

Wie sieht es bei der CIDP aus? Es scheint, dass viele Neurologen primär das Ziel verfolgen, keine Lähmungen auftreten zu lassen, und das Problem der Schmerz erst danach angegangen wird. In den Neurologischen Kliniken des BG Universitätsklinikums Bergmannsheil und im St. Josef Hospital in Bochum wurden CIDP-Patienten zu ihren Schmerzen und zu anderen Symptomen befragt. Zwei Drittel haben als Nervenschmerz klassifizierbare Schmerzen angegeben. Das sind deutlich mehr Betroffene als man nach der Lektüre der Veröffentlichungen zu CIDP vermuten würde. Bei 2/3 der Erkrankten sollte also auch eine Therapie der neuropathischen Schmerzen erfolgen.

Die Effekte der CIDP-Therapien auf Schmerzen sind nicht gut verstanden. Es gibt wenige Studien zum Schmerz. Die Empfehlung der Spezialisten  ist, diese wie bei Nervenschmerzen anderer Ursachen zu behandeln. Wir haben zur Therapie des Nervenschmerzes viele Medikamente. Das Problem ist, sie helfen nicht jedem Betroffenen. Zum Beispiel zeigten Studien, dass Pregabalin nur einer von 4 erfolgreich damit behandelt wird.

Wie findet man das passende Medikament. Die Nervenschädigung kann an den Nervenenden sein. Dort können Botenstoffe produziert werden, oder die Kanäle, die für die Erregbarkeit zuständig sind, werden verändert. Ein Beispiel ist der Rezeptor TRPV1, der wird durch Hitze oder Capsaicin aktiviert. Eine Überaktivität führt zu brennenden Missempfindungen. Diese Rezeptoren können durch Capsaicin Pflaster, bis zu 3 Monate inaktiviert werden. Die Natriumkanäle sind für die Reizweiterleitung wichtig. Bei 10% der Patienten mit einer schmerzhaften Neuropathie waren Mutationen in den Nervenkanälen  nachweisbar. Die genetische Disposition bedingt wahrscheinlich zumindest teilweise, ob eine Nervenerkrankung schmerzhaft wird oder nicht. Auch im Bereich des Rückenmarks können die Faserbahnen, die normalerweise Schmerzen modulieren, diese verstärken, die körpereigene Schmerzhemmung ist somit eingeschränkt.

Mit einem Testverfahren kann man herausfinden welcher Schmerzmechanismus eine Rolle spielt. Mit einer Wärmeplatte wird das Temperaturempfinden und der Beginn des Hitze- oder Kälteschmerzes getestet. Mit verschieden dünnen Härchen wird die Schwelle für die Wahrnehmung für solche ganz leichten Reize bestimmt. Die Stimmgabel gibt Informationen über die Funktion der dicken Nervenfasern.  Ein Stift, der mit verschiedenen Gewichten gefüllt ist, fühlt sich entweder spitz oder weniger spitz an. Das gibt Informationen, ob eine Überempfindlichkeit zentraler Strukturen vorhanden ist. Die wiederholten Messungen machen das Maß der Empfindlichkeit deutlich. Wiederholungen verstärken die Empfindung der Reize normalerweise nur etwas. Eine extreme Steigerung der Wahrnehmung oder gesteigerte Empfindung von ganz leichten Reizen, als sehr unangenehm fast schmerzhaft, deuten auch auf eine Überempfindlichkeit zentraler Strukturen. Die Ursache ist, dass Nerven, die für die Berührungsreize zuständig sind, mit Nerven der Schmerzweiterleitung verschaltet werden.

Die Auswertung dieses Testverfahrens ergibt ein Profil, welches die individuelle Wahrnehmungsstörung darstellt. Anhand von größeren Patientendatenbankanalysen haben sich 3 verschiedene charakteristische Profile herausgestellt, die auch pathomechanistisch gut zu den Vorstellungen der neuropathischen Schmerzen passen.

Wenn die Empfindung für schmerzlose und schmerzhafte Reize herabgesetzt ist, deutet dies auf einen Nervenfaserverlust hin, hier sind vor allem zentrale Strukturen für die Schmerzunterhaltung zuständig. Das zweite Profil zeigt eine Schmerzenervierung durch eine periphere Überempfindlichkeit. Im dritten Profil sind einige Nervenfasern geschädigt und eine zentrale Überempfindlichkeit liegt zudem vor. Wichtig ist diese Unterscheidung zum Einsatz von Medikamenten. Botulinumtoxin wird von den Nervenenden aufgenommen und wirkt dann zentral auf die Schmerzwahrnehmung. Wenn der Patient weniger oder keine Nervenenden hat (Profil 1), kann er auf das Medikament nicht ansprechen.

Für die Schmerzwahrnehmung sind aufsteigende und absteigende Schmerzbahnen auch wichtig. Durch die absteigenden Bahnen können Schmerzen etwas gedrosselt werden. Man kann testen, inwiefern das funktioniert. Auf der einen Seite gibt man einen Schmerzreiz und stellt die Stärke fest. Normalerweise wird der zweite schmerzhafte Reiz als weniger schmerzhaft empfunden. Wenn diese körpereigene Schmerzhemmung gestört ist, kann ein Antidepressivum wie Duloxetin diese Schmerzhemmung verbessern, die absteigenden Bahnen funktionieren wieder besser.

Zum Überblick die Medikamente, die üblicherweise bei Schmerzen eingesetzt werden:

Pregabalin oder Gabapentin, Antidepressiva, Capsaicin Pflaster, Opioide, Botulinumtoxin.

Bei einer Schädigung der Nerven in der Peripherie macht es durchaus Sinn, weiter vielfältige Reize zu setzen. Denn das betroffene Areal wird im Gehirn präsentiert. Ohne Reiz kann dieses Areal schrumpft. Daraus kann ein zusätzlicher Mechanismus, der zu Schmerzen führt, entstehen.

Prof. Enax-Krumova stellte zum Ende ihres Vortrags heraus, dass sich Schmerzen im Verlauf der Erkrankung verändern können. Zu Beginn einer Polyneuropathie, wenn weniger Nerven untergegangen sind, können Schmerzen zunächst keine Rolle spielen.

Wir begannen mit der Fragerunde:

Frage: Eine Polyneuropathie ist festgestellt worden. Der Morgen beginnt mit sehr starke Schmerzen nur im rechten Unterschenkel die nach 2 Stunden nachlassen.

Prof. Krumova: Es ist ganz schwierig eine Ferndiagnose zu machen. Einseitig ist ja untypisch für eine Polyneuropathie. Die Frage ist, sind die Schmerzen durch Belastung stärker. Vielleicht liegen andere Störungen vor, ist die Lagerung über Nacht nicht gut, gibt es sekundäre Schäden durch die Fußheberschwäche? Das sollten Sie mit ihrem Arzt klären.

Nachfrage: Ich nehme bisher keine Schmerztabletten, sollte ich das ändern?

Prof. Enax-Krumova: Das entscheidet der Patient. Der Schmerz ist für den einen auszuhalten; für den anderen nicht. Sie sind derjenige, der sagt, was er braucht.

Frage: Sie haben die Übersicht gezeigt, dass unterschiedliche Schmerzmittel bei vielen Personen eingesetzt werden, bevor es bei einem Betroffenen wirkt. In der Grafik war der Kreis sehr groß, wenn es an vielen Patienten eingesetzt wurde. Zeigen die Jahreszahlen eine Entwicklung in der Bewertung an, zum Beispiel Gabapentin, das somit früher besser bewertet wurde als heute?

Prof. Krumova: Richtig, diese Blasen haben in etwa dargestellt, an wie vielen Patienten die Medikamente eingesetzt wurden. Dazu hat man alle Patienten aus verschiedenen Studien zusammengezählt und dadurch ergibt sich über die Jahre eine Entwicklung. Die früher optimistischen Zahlen haben sich etwas relativiert und eher der Wahrheit angenähert. Das soll nicht heißen, dass die Medikamente schlecht sind, für viele Patienten bringen sie schon eine Linderung. Man muss offen sein, es gibt keine Zauberpille, die alle Schmerzen sofort beseitigt. Es ist ein längerer Prozess. Mittlerweile weiß man mehr, durch diese Datenlage haben wir einiges gelernt. Es gibt Leitlinien zur Behandlung der neuropathischen Schmerzen, als Orientierungshilfe für Mediziner. Pregabalin ist kein schlechtes Medikament.

Menschen, die vor 10 Jahren erfolglos Schmerztherapien versucht haben, sollten heute nochmal zum Arzt gehen und was anderes versuchen. Früher wurde Pregabalin schnell eindosiert und wurde von vielen nicht vertragen. Wir wissen, wenn man es langsamer eindosiert, wird es deutlich besser vertragen. Das gilt auch für andere Medikamente, die auf Erregungsleitungen wirken. Beide Seiten sollten Geduld mitbringen, nicht direkt nach einer Woche beurteilen, ob das was gebracht hat, sondern nach 3-4 Wochen. Nebenwirkungen, die zu Beginn auftreten, wie Müdigkeit, geben sich häufig beim langsamen Einstieg mit der Zeit.

Frage: Zu verschiedenen Aussagen von Ärzten zur Dosierung von Pregabalin. Bis 600 Milligramm sei überhaupt kein Problem. Nebenwirkungen sind Schwindel und Benommenheit. Es soll mit Duloxetin zusammengenommen werden. Das ist dann wiederum nicht verträglich mit anderen Medikamenten. Es ist sehr schwierig, bei einer CIDP und weiteren Erkrankungen, weil man die verschiedenen Fachärzte und deren Therapien abstimmen muss. Würden sie da eine Einstellung in einer Schmerzklinik empfehlen?

Prof. Enax-Krumova: Bei einer Pregabalindosis von 75mg würde ich nicht besonders viel Wirkung erwarten. Der Patient muss Wirkung und Nebenwirkungen abwägen. Man kann es bis zu 600 mg dosieren, wenn Sie es vertragen. Bei einer Kombination von Medikamenten, die an unterschiedlichen Stellen wirken, können diese in niedriger Dosierung erfolgreicher eingesetzt werden. Das ist wahrscheinlich die Überlegung, wenn Pregabalin mit Duloxetin kombiniert wird. Wenn man an 2 Schrauben ein bisschen dreht, können die Nebenwirkungen reduziert werden. Selten ist ein Patient der Musterpatient, der 45 Jahre alt ist und  sonst komplett gesund. Da muss man mit den anderen Fachrichtungen zusammenarbeiten. Der Besuch beim Schmerztherapeut ist sinnvoll.

Rainer Spahl fragt, alle vier Wochen erhalte ich Immunglobulin-intravenös. 2 Tage danach beginnen Kopfschmerzen. Während ich früher versuchte, das erst zu ignorieren und später doch Medikamenten einnahm, reagiere ich nun frühzeitig. Die Schmerzen enden dadurch viel schneller und ich muss weniger Medikamente nehmen. Ist es richtig, eher zu früh als zu spät zu Schmerzmitteln zu greifen?

Prof. Enax-Krumova: das ist nicht falsch, wie Sie es machen, so wie sie selbst das gemerkt haben. Wenn eine Schmerzsymptomatik sich ausgebildet hat, kann die Behandlung länger dauern. Wir kennen das Problem. Zur Vermeidung von Kopfschmerzen wurden gute Erfahrungen mit einer langsamen Infusionsgeschwindigkeit gemacht.

Sebastiano Sambasile stellt einen Fall aus seiner Beratung vor. Symptomatisch sind Missempfindungen und Taubheit, aber in den ENG-Messungen ist nichts festgestellt worden. Die Nervenleitgeschwindigkeit und Liqoruntersuchungen waren negativ. Was kann der Betroffene noch machen?

Prof. Enax-Krumova: das ist eine gute Frage. Sie müssen sich das vorstellen, ein sensibler Nerv ist für die Wahrnehmung zuständig. Alte Untersuchungen über die sensiblen Nerven zeigen, dass 20-30% der Nervenfasern aus dicken myelinisierten Nervenfasern bestehen. Die anderen 70 – 80% haben keine oder nur eine sehr dünne Myelinschicht und sind für die Wahrnehmung von warm, kalt und spitz zuständig. Die Nervenleitgeschwindigkeit nicht alle Fasern erfasst, sondern nur die dick myelinisierten. Diese diagnostische Lücke kann man mittlerweile durch andere Methoden schließen. Eine Möglichkeit wäre, mit Wärme- und Kältewahrnehmungsschwellen die Funktion der Nerven zu untersuchen. Die Untersuchung einer Hautstanzbiopsie zeigt unter dem Mikroskop die kleinen Nervenfasern. Die verminderte Anzahl ist ein Hinweis für eine Nervenschädigung. Manchmal z.B. im Frühstadium sind die Nerven noch nicht stark beschädigt, aber gerade dann kann es wichtig sein, die Krankheit zu diagnostizieren. Es kann zum Beispiel Diabetes oder irgendeine andere behandelbare Ursache vorliegen.

Frage: Kann die Regeneration der Nervenfasern unterstützt werden?

Prof. Enax-Krumova: Es gibt zunehmend Forschungen dazu. Die Regeneration hängt vom Input ab. Das gilt für die Nerven und die Muskulatur. Aktivierende Maßnahmen habe eine Bedeutung. Zusätzliche Reizung wirken sich positiv aus. Barfuß laufen, alles was anregend für das Nervensystem sein kann, ist gut.

Frage: Im November 2020 GBS. Zur Zeit bin ich immer müde und habe Konzentrationsschwäche. Ein Arzt sagte, das sei nur Kopfsache und habe mit dem GBS nichts zu tun. Habe ich also ein psychisches Problem?

Prof. Enax-Krumova: Immunvermittelte Erkrankungen zeigen oft solche Fatigue-Symptomatik, Erschöpfung und Konzentrationsstörungen. Nach einem GBS kann sich auch eine depressive Symptomatik ausbilden. Es kann also beides sein.

Frage: Hilft eine Hochton-Therapie?

Prof. Enax-Krumova: Es gab vor ein paar Jahren Studien. Diese erste Euphorie hat sich ziemlich gelegt. Therapien, die nachweislich zu einer Linderung führen, werden von der Krankenkasse in der Regel schon abgedeckt. Bevor man in das eigene Portemonnaie greift, sollte man vorsichtig sein.

Frage: Die CIDP scheint fortschreitend zu sein. Der Betroffene hat zunehmend Schwierigkeiten mit der Mobilität, die Einschränkungen nehmen zu. Er fragt, ob es auch damit zusammenhängen kann, dass seine Infusionszyklen gestreckt wurden, früher alle 4 Wochen jetzt alle 6 Wochen?

Prof. Enax-Krumova: Wir kennen das schon von eigenen Patienten, die sagen, mit bestimmten Abständen kommen sie nicht mehr zurecht. Ich empfehle mit den behandelnden Ärzten zu diskutieren, ob man die Dosierung oder die Abstände anpasst.

Frage: CIDP wird mit Kortison behandelt, das auch die Schmerzen verbessert. Jetzt habe ich eine COVID-19 Infektion und vermehrte Schmerzen. Ist das normal?

Prof. Enax-Krumova: Grundsätzlich auch hier, Schmerzen auszuhalten, sollten Sie sich überlegen. Bei Corona ist es etwas komplexer, wir haben nicht so viele richtige belastbare Daten. Die Coronainfektion kann sich auch auf Schmerz-Mechanismen auswirken.

Wir danken Frau Prof. Enax-Krumova für ihren interessanten Vortrag und die Antworten auf so viele Fragen.