Die BAG SELBSTHILFE zur Reformidee eines Primärarztsystems

Ein künftiges Primärarztsystem muss die Belange chronisch kranker Menschen in besonderer Weise berücksichtigen. Ein Primärarztsystem kann auch für Menschen mit chronischen Erkrankungen eine qualitative Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung bringen, da ein solches System den Vorteil hat, dass Patient*innen einen festen Ansprechpartner erhalten, der ihre Krankengeschichte kennt und eine kontinuierliche Betreuung gewährleisten kann.

Dies gilt es jedoch zu bedenken:

Schon bei den Disease-Management-Programmen hat sich gezeigt, dass bei der Versorgung chronisch kranker Menschen den Fachärzten oft eine zentrale Rolle zukommt. Ferner fehlen bereits ohne ein Primärarztsystem rund 5.000 Hausärzte. Noch prekärer ist die Situation behinderter Menschen, die auf eine barrierefreie Versorgung angewiesen sind. Da chronisch kranke und behinderte Menschen in weit größerem Ausmaß auf den Zugang zum Facharzt angewiesen sind, geht bereits der Koalitionsvertrag davon aus, dass Ausnahmen vom Primärarztsystem im Sinne eines Hausarztsystems für bestimmte Gruppen von chronisch Erkrankten vorgesehen sind. Es bleibt jedoch unklar, warum diese Ausnahme nur für Menschen mit einer „spezifischen schweren chronischen Erkrankung“ gelten soll.

Aus Sicht der BAG SELBSTHILFE macht es Sinn, das Primärarztsystem von vornherein als Netzwerk zu denken, in dem die koordinierende Rolle je nach Behandlungssituation flexibel einem Arzt oder einer Ärztin zugewiesen werden kann. Für manche chronisch kranke Menschen mit einer systemischen Erkrankung nimmt ein Facharzt eine so zentrale Rolle ein, dass es sinnvoll ist, ihn als Koordinator einzusetzen.

Achtung:

Die bestehende Mangellage der Hausarztpraxen könnte dazu führen, dass Patienten keine Anamnese mehr in der Hausarztpraxis erhalten, sondern sich lediglich einen Überweisungsschein holen können – ohne Prüfung der Notwendigkeit. Eine solche Auswirkung würde das System massiv verteuern. Wenn Hausärzte sich jedoch die Zeit nehmen sollten, die Sinnhaftigkeit jeder Überweisung zu prüfen, dürfte dies zu einer zusätzlichen Mangellage führen – neben dem Fehlen der 5.000 Hausärzte. Vor diesem Hintergrund hält die BAG SELBSTHILFE die undifferenzierte Einführung eines Primärarztsystems als reines Hausarztsystem aus mehreren Gründen für risikoreich.

Zentral für das Netzwerk des Primärarztsystems muss das Wunsch- und Wahlrecht der Patient*innen sein. Die BAG SELBSTHILFE tritt dafür ein, dass chronisch kranke Menschen im Einvernehmen mit dem jeweiligen Facharzt die Möglichkeit haben, diesem Facharzt die Koordinationsrolle zuzuweisen.

Ferner ist zu beachten, dass das Netzwerk der Behandler nicht als festgelegte Struktur den Patient*innen aufgezwungen werden darf. Die freie Arztwahl, das Recht auf eine zweite Meinung sowie das Recht auf eine ergebnisoffene Beratung über therapeutische Alternativen müssen unangetastet bleiben. Das Primärarztsystem muss im Zeitalter der Digitalisierung auch als digitaler Raum verstanden werden, dass dem Patienten vollständige Transparenz über das sie betreffende Gesamtbehandlungsgeschehen im Netzwerk der ihn behandelnden Ärzte ermöglicht.